Von der Sterne-Gastronomie in die Krankenhaus-Küche
Marcus Scherer serviert den Patienten feinste Kost
Wer wissen will, wie glücklich Kochen machen kann, sollte sich mal mit Marcus Scherer verabreden. In Hamburg geht das auf Krankenschein, denn der 49-Jährige ist Koch im Krankenhaus. Oder besser gesagt: Küchenchef in Hamburgs Israelitischem Krankenhaus, dem IK, im Norden der Stadt. Mit 15 Mitarbeitern versorgt er täglich 170 Patienten mit drei Mahlzeiten, bewirtet mit dem Café im Park die Mitarbeiter der Klinik und auch noch eine ganze Menge Menschen, die ihre Mittagspause gern hier verbringen. Freiwillig. Täglich.
"Ist das dein Ernst?"
Als Scherer 2014 die Hamburger Sterne Gastronomie hinter sich ließ, um im IK anzufangen, hatte er eine Menge Fragen von Kollegen zu beantworten: Hast du nichts Besseres gefunden? Ist alles in Ordnung? Bist du wahnsinnig geworden? Scherer lächelt rückblickend: "Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens", sagt er.
Nie ging es um so viel wie hier
Dazu muss man wissen: Das IK ist nicht irgendein Allerwelts-Krankenhaus, sondern spezialisiert auf Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Sechs von zehn Patienten haben eine oder mehrere Unverträglichkeiten oder Allergien. Viele der Patienten hier kämpfen gegen den Krebs – und einige werden den Kampf verlieren. "Wir widmen uns mit besonderer Hingabe der Erfüllung individueller Speisewünsche in der letzten Lebensphase", sagt Scherer. "Und um ehrlich zu sein: Nie ging es beim Kochen um so viel wie hier." Dieser Ansatz ist doppelt erfüllend. Denn genauso wie das Essen seine Patienten im Kampf gegen die Krankheit motiviert, ziehen Scherer und sein Team viel positive Energie aus der Dankbarkeit der Patienten. Denn was kann es Schöneres geben, als eine medizinische Behandlung durch eine wirklich gute Ernährung zu unterstützen und so mit guten Rezepten manchmal sogar Leben zu retten?
Marcus Scherer hat im IK alles auf den Kopf gestellt, was bisher in der Küche galt. Alle Prozesse, alle Abläufe, die komplette Küchenorganisation und den Speiseplan. Zack! Aus 80 Prozent Convenience wurden 20. Alles, was irgendwie unter die Zusatzstoffverordnung fällt: raus. Biomüll: 35 Prozent weniger. Kochen nach Kassenlage? Vergesst es! So billig wie möglich einkaufen? Bloß nicht! "Mit thailändischem Hühnerfleisch oder dänischem Stressschwein könnte man bestimmt noch ein paar Euro sparen – aber das ist nicht unser Weg", sagt Scherer. Lieber erklärt er seinem Chef, warum es Flexi-Chefs und eine gute Maschine fürs Gemüseschneiden braucht. "Damit haben wir angefangen: mit der Verbesserung der Abläufe und der Ausstattung unserer Arbeitsplätze." Und mit der unmissverständlichen Ansage: "Wir sind Köche!" war die Lösung am Start. "Also kochen wir auch so!" Genau deshalb mag Scherer die Mutlosigkeit vieler Kollegen in Bezug auf Qualität auch nicht einfach hinnehmen. "Wer sagt denn, dass sich nichts ändert? Das liegt doch an uns! Wenn wir Quark und Früchte kaufen und beides frisch verarbeiten – wer soll etwas dagegen sagen? Es liegt an uns, den ersten Schritt zu gehen!"
Geschmack reinbringen!
Im IK sind die ersten Schritte längst getan. Hier kocht und kämpft man mit der feinen Klinge. Also wird frische Petersilie gekauft, um die Möhren abzuschmecken. Die Stängel lässt Scherer fein hacken, um daraus ein Kräuteröl zu machen. Das wiederum dient dazu, den Seelachs für Freitag über Nacht zu marinieren. "So kann ich Geschmack reinbringen", sagt Scherer. "Und wenn du dazu mehr wissen willst: Wir haben auch ein Kochbuch geschrieben." Die besten Rezepte aus dem IK. Bisher kein großer Bestseller, aber gerade für pflegende Angehörige wahnsinnig hilfreich.
5,80 Euro pro Kopf und Tag
Scherers Budget für den Wareneinsatz beträgt 5,80 Euro pro Kopf und Tag. Damit haben er und sein Team drei Mahlzeiten zu zaubern. Große Sprünge sind damit nicht drin. Aber: "Wir kommen hin", sagt Scherer. "2018 haben wir gerade mit 5,36 Euro abgeschlossen." Wie man das schafft? Mit einem cleveren Speiseplan, bei dem es die Rinderroulade nur am Wochenende gibt, wenn weniger Patienten da sind. Mit saisonaler Küche und mit Klassikern: Milchreis mit einem selbst gekochten Apfel-Kirsch-Kompott – dann reicht es am nächsten Tag auch für ein schönes Wok-Gemüse, für falschen Hasen, ein paniertes Schnitzel oder eben mit Kräuteröl marinierten Fisch. "Nur den Fleisch- und Fischanteil zu reduzieren, ist unserer Meinung nach übrigens keine Lösung", sagt Marcus Scherer. "Denn so macht man Menschen nicht glücklich – und genau darum geht es uns ja." Und doch: Auch das gibt es. Beschwerden. Weil mal jemand etwas nicht mag. "Logisch", sagt Marcus Scherer. "Wir haben zum einen erst 60 Prozent unseres Weges erledigt. Zum anderen hilft es ungemein, wenn man sich als Küchenchef auch auf der Station blicken lässt. Wenn jemandem unser Essen nicht schmeckt, gehe ich hin und rede mit ihm – im Restaurant würde man es doch genauso machen!" In diesen Kontext fällt auch das Service-Verständnis der Küche. Eine Schwester braucht außer der Reihe noch eine Suppe? Aber gern! Kommt sofort!
Anfangs gab es einige Beschwerden. Die Standzeiten der Gerichte waren nicht gut genug einkalkuliert. Oder das Gemüse noch zu knackig. Das aber hat die Crew inzwischen im Griff – und ein paar Kniffe in petto. "Wir dürfen nichts rosa schicken", sagt Marcus Scherer. "Aber wir dürfen den Fisch in 85 statt in 100 Grad heißem Dampf garen."
Schulnoten für neue Rezepte
Bevor es ein Gericht auf den Speiseplan schafft, wird es getestet. Alles, was nicht mindestens eine Drei bekommt, wird verworfen. Abgeschmeckt wird immer. Künftig soll das auch für hochkalorische Flüssignahrung gelten, die man bisher fertig zukaufte. "Hast du die mal probiert?", fragt Marcus Scherer und drückt mir ein Fläschchen in die Hand: "Ich glaube, das geht auch schmackhafter, oder?" Stimmt. Da ist Luft nach oben.
Zum Themenkomplex professioneller Prozesse gehören auch die richtigen Partner. "Wir arbeiten mit nur zwei Lieferanten zusammen. So kann man einerseits gute Preise aushandeln und hat andererseits weniger Arbeit." Schließlich kostet jede Bestellung Zeit. Und damit eben auch Geld. "CHEFS CULINAR ist für uns der wichtigste Partner. Die haben Jahre Vorsprung in dem, was sie machen. Die Zuverlässigkeit ist perfekt und wir wissen, dass vorgeschnittene Putenschnitzel eben genau 130 Gramm wiegen. Da können noch so viele Firmen versuchen, die Konzepte zu kopieren."
Je länger man mit Marcus Scherer redet, desto deutlicher wird: Dieser Mann ist nicht nur bodenständig und bescheiden, sondern schlicht und ergreifend glücklich. Mit warmherzigem Lächeln sitzt er in seinem kleinen, spartanisch eingerichteten Büro, hat gerade den Mittagsservice hinter sich und strahlt eine Zufriedenheit aus, die neidisch macht. "Stimmt schon. Ich habe einen Hafen angefahren", sagt er. "Und ich kann meine Kinder aufwachsen sehen." Von den früher üblichen 240 Stunden im Monat, ist Scherer heute nämlich weit entfernt – üblicherweise ist um 15 Uhr für die Küchencrew Feierabend.
Für wen kochen wir?
"In der Gourmetküche wird Leistung auch gewürdigt", sagt der Küchenchef nachdenklich. "Aber anders als hier. Ich für meinen Teil brauche keinen handgefangenen Wels oder fingerdicke Trüffelscheiben. Denn mal ehrlich: Für wen kochen wir? Für unser Ego als Köche und den Vergleich mit Kollegen? Oder um Gäste glücklich zu machen und Patienten neuen Lebensmut zu geben?"